Mandy Meyer-Steffan
Haltepunkt – von Alexander Zahn

Er spürt, dass in diesem Moment etwas mit ihm passiert. Dass sich sein Leben ändert und dass die Gewissheit, nie wieder zurück zu können, körperlich schmerzt. Er krümmt sich in seinem Sitz, dessen furchtbares gelbschwarzes Muster ihm aberwitziger Weise in diesem Moment auffällt. Ist es das, was ihn ab jetzt jeden Tag erwartet? Mit einem Mal wird ihm bewusst, was ihn am Umgang mit Erwachsenen schon immer irritiert hat. Der vielzitierte Ernst des Lebens. Mit der Unschuld der Kindheit verloren die Menschen gleichzeitig deren größtes Gut: das grundlose Glück.
Kinder brauchten einen Grund um unglücklich zu sein, Erwachsene einen um glücklich zu sein. Was würde nun kommen? Glück nur unter Alkohol? Nach einer Zigarette? Einem guten Buch oder Film? Einer Gehaltserhöhung?
Aber kein Staunen mehr, keine Einfachheit, keine Freude am Kleinen und Großen. Mit einem Mal ist ihm, als könnte er in die Menschen in der Bahn hineinsehen. Ihre zerbrechlichen Knochen, Sehnen und Organe. Wie unglaublich fragil und vergänglich, wie nichtig und winzig. Und darunter ihre Seelen, grässliche Gebilde, ausgekleidet mit einem Bodensatz aus angesammelten Enttäuschungen, Verletzungen, falschen Entscheidungen und verpassten Gelegenheiten, wie Kalk in einem Wasserkocher. Wie viele von ihnen sich wohl wünschten, noch mal von vorn beginnen zu können und doch würden sie nichts anders machen. Was war es, das diese Menschen abstumpfte, sie blind, taub und orientierungslos machte? Er muss lachen. Diese Menschen? Er ist jetzt einer von ihnen! Er wird sich nun morgens fragen wofür er überhaupt aufsteht, was der Sinn seines Lebens ist. Der Lachanfall schüttelt ihn regelrecht. Als wäre das menschliche Dasein nicht das Sinnloseste im Universum! Vom reinen Ansehen kann er sagen, was seine Mitinsassen (automatisch benutzte er in Gedanken dieses Wort) tun, um nicht den Verstand über dieser Sinnlosigkeit zu verlieren. Buddhist, Veganerin, Musikverehrer, Onlinespieler, Trinker. Das waren die Jüngeren. Die Älteren hatten Kinder in die Welt gesetzt und glaubten so, ihrem Leben Sinn gegeben zu haben.
Bautzner Straße/Rothenburger Straße. Aussteigen. Der Moment der Klarheit ist vorbei, die Menschen sind wieder Menschen und doch ist die Haltestelle, die Treppe, die Tür, die Wohnung nicht mehr dieselbe. Kurz hat er das Bedürfnis zu weinen, doch wer würde es hören? Wen würde es kümmern? Er ist jetzt einer von ihnen. Er ist allein.
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