Das Salz in der Suppe – Vera Heinrich

Der herzhafte Duft von Liebstöckl und Majoran durchdringt die feuchte Küchenluft. Mutter steht am Kohleofen und rührt im großen Emailletopf. So wie sie es die letzten 50 Jahre tat. Kartoffelsuppe mit Würstchen gibt es heute. Ein Rezept, was schon ihre Mutter einst auf dem prasselnden Herdfeuer kochte. Tradition und Beständigkeit sind die Werte, die hier im Hause zählen. Die schnelllebige Welt mit ihrer unberechenbaren Dynamik, ihren Apps, ihren Bloggern und Payback-Karten scheint in diesen Mauern genauso real wie eine ferne Zukunft mit fliegenden Autos und Ferienhäusern auf dem Mars. Mutter dreht sich in ihrer rot-weiß-gemusterten Schürze zu mir. „Deckst du bitte den Tisch, Spätzchen?“ Dass das Spätzchen inzwischen selbst drei eigene Spatzen, ein Haus und nächsten Monat Silberhochzeit hat, irritiert sie in ihrer Gewohnheit ganz und gar nicht.

Salz

Was sie irritiert, ist vielmehr der Salzstreuer in Form einer Kuh, der nicht an seinem Platz steht. „Wo habe ich denn jetzt wieder das Salz?“, fragt sie. „Ich habe es doch immer hier stehen. Hier im Gewürzregal. Das weißt du doch, Spätzchen. Hast du es etwa wieder irgendwo stehen lassen und nicht zurückgestellt?“ Ich lächele sie an, lege ihr meine Hand auf die Schulter. „Wir werden es schon finden, Mutti.“ In ihrem Blick spüre ich die Unsicherheit, die sich in letzter Zeit immer öfters in solchen Situationen zeigt. „Ohne Salz schmeckt doch die Suppe nicht, Kind!“, ruft sie nun lauter. „Hilf mir suchen. Du weißt doch, wie schwer mir das Laufen fällt.“ Bevor die Stimmung kippt, fange ich an zu suchen. Zuerst im Hängeschrank mit den Tassen aus aller Welt, mitgebracht von den vielen Familienurlauben. Dann die Jugendstilvitrine, die schon in ihrem Elternhaus stand. Kein Salz zu finden. Mein Blick schweift durch die kleine Küche, in der ich jeden einzelnen Winkel kenne. Nichts zu sehen vom Salzstreuer. Mutter geht zum Kühlschrank. „Wenn wir schon kein Salz haben, dann wenigstens ein paar Bockwürste.“ Sie öffnet die Kühlschranktür und greift nach dem Bockwurstglas. Plötzlich stutzt sie: „Wie kommt das denn hier her?“ Statt der versprochenen Würste holt sie den Salzstreuer aus dem Kühlschrank. Ich zucke mit den Achseln und versuche, das Thema beiläufig zu wechseln. „Frau Holler hat heute für dich angerufen, Mutti“, beginne ich vorsichtig. „Ab kommenden Ersten ist ein Zimmer für dich frei.“ Mutter hört auf, die Suppe zu salzen. Sie nimmt die Suppenkelle und füllt unsere Teller mit der heiß dampfenden Kartoffelsuppe. „Ein oder zwei Bockwürste?“ „Eine bitte“, antworte ich. „Frau Holler hat für dich ein geräumiges Einzelzimmer mit Ausblick auf die Grünanlage organisiert. Ist das nicht toll? Was sagst du, Mutti?“, versuche ich das Gespräch wieder umzulenken. „Über das Zimmer mit schönem Ausblick kann sich jemand Anderes freuen. Ich bleibe hier. Schließlich komme ich sehr gut allein zurecht“, antwortet sie mir spitz. „Aber du sagst doch selbst, dass du dich nicht mehr so gut bewegen kannst. Wie sollst du es denn allein schaffen, diesen riesigen Kasten hier immer in Schuss zu halten? Vom Garten einmal ganz abgesehen. Und dort bräuchtest du dich um so etwas nicht mehr zu kümmern.“ Sie blickt mir direkt in die Augen: „Ich bleibe hier und damit Ende der Diskussion. Iss deine Suppe.“ Einen Anlauf nehme ich noch: „Mutti, wir haben schon so oft darüber gesprochen, dass es das Beste für dich ist. Es fällt mir doch auch nicht leicht. Ich möchte doch nur, dass du gut aufgehoben bist. Natürlich bist du wesentlich fitter als viele Andere in deinem Alter. Aber du hast selbst zugegeben, dass du Schwierigkeiten allein hast und öfters Hilfe brauchst. Das ist auch vollkommen in Ordnung. Durch die Arbeit schaffe ich es jedoch leider nicht immer, sofort hier zu sein. Im St. Stephanus ist rund um die Uhr jemand für dich da. Außerdem kommen die Kinder und ich dich jeden Sonntag besuchen.“ Sie legt ihren Löffel neben den Suppenteller. Tränen tropfen in ihre Suppe. Es versetzt mir einen Stich ins Herz. Auch ich kann nicht mehr weiter essen und lege den Löffel hin. „Bitte schiebt mich nicht ab“, fleht sie mit dünner Stimme. „Ich will euch nicht zur Last fallen. Aber bitte schickt mich nicht weg, raus aus meinem Zuhause.“ Auch mir kommen die Tränen. Ich nehme sie in den Arm: „Nein, nein. Hab keine Angst. Wir kümmern uns um dich. Das kriegen wir schon irgendwie hin. Hauptsache, dir geht es gut, Mutti.“ Eine ganze Weile sitzen wir noch so da. Als ich mich später verabschiede, drückt sie mich fest an sich und bedankt sich für mein Kommen. Im verstaubten Vorbau lasse ich meine erleichterte Mutter zurück. Wenn ich wieder zu Hause bin, rufe ich gleich Frau Holler an, um Muttis Heimplatz abzusagen, nehme ich mir fest vor. Kaum habe ich das Hoftor hinter mir verschlossen, höre ich, wie Mutter das Haus verlässt. Ist ihr noch etwas eingefallen, was sie mir erzählen wollte? Sie kommt aus dem Hoftor heraus zu mir auf den Bürgersteig. Mit großen Augen schaut sie mich an: „Spätzchen, ich muss mich beeilen. Ich muss doch zur Spätschicht.“ Mir stockt der Atem: „Mutti, du hast heute keine Spätschicht“, sage ich mit einem Kloß im Hals. Zusammen gehen wir wieder zurück ins Haus.

Von: Vera Heinrich

Für den Inhalt und die Gestaltung der Geschichten sind die benannten Autoren verantwortlich. Alle Rechte liegen bei den Autoren.

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Mandy Meyer-Steffan