Donka – Inna Ernst

Der Kaffee roch so intensiv, als wären die Kaffeebohnen gerade frisch gemahlen worden. Irene saß in einem kleinen Café am Bahnhof und genoss diesen starken Duft in der Hoffnung auf mehr Konzentration. In genau 15 Minuten ging ihr Zug, der sie zu einem wichtigen Bewerbungsgespräch bringen soll, welcher über ihren weiteren Weg entscheiden wird. Noch schnell eine Tasse, um die Zeit zu überbrücken.
Sie schaute sich um. Der Morgen begann recht frisch, doch die warmen Sonnenstrahlen, die durch das offene Fenster durchdrangen, versprachen einen angenehmen Junitag, den Irene am liebsten in ihrem Garten verbracht hätte. Sie sah sich die Menschen an, die teilweise gähnend durch den Bahnhof hetzten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Cafés sah sie plötzlich im Wirrwarr der Menschenmenge ein kleines Kind in der Ecke sitzen. Es war ein Mädchen. Das Kind schaute direkt zu Irene. Es schien allein zu sein. Irene überlegte noch ein wenig und als immer noch keine Erwachsenenbegleitung in Sicht war, beschloss sie der Sache nachzugehen. Sie trank den Kaffee aus und ging zu dem Mädchen.

Donka

– Hallo! – Irene kniete auf einem Bein. – Wo sind denn deine Eltern?
Das Kind schwieg.
– Wo ist deine Mama?
Die Kleine schaute sie weiterhin verwundert an. Ihre dunklen Löckchen fielen ihr in die Augen. Sie müsste etwa sechs oder sieben Jahre alt sein.
– Verstehst du meine Sprache? – Irene versuchte wenigstens etwas aus ihr rauszukriegen.
Keine Antwort.
– Na gut.
Irene stand auf und ging weiter. Doch dann hörte sie Schritte hinter sich. Sie drehte sich um. Das Kind war ihr nachgelaufen.
– Hast du dich verlaufen? Soll ich dich irgendwohin bringen?
Nur ein unschuldiger Blick als Antwort. Irene stutzte. Sie kniete sich wieder herunter zum Mädchen und streifte ihr liebevoll die Locken aus dem Gesicht.
– Ok, hör zu, ich muss jetzt meinen Zug erwischen, verstehst du? Machs gut, ja? – Sie stand auf und ging. Das Kind lief ihr wieder nach. Irene blieb stehen.
– Nein, du sollst mir nicht nachlaufen. Ich muss jetzt zu meinem Zug, verstehst du mich? Ich muss jetzt weg. Deine Eltern suchen dich bestimmt schon. Geh zu ihnen.
Weißt du, wo deine Mama ist? Bleib einfach hier! – Irene hielt ihre Handflächen vor.
– Sie findet dich dann schon, ok? Ich muss jetzt wirklich los.
Sie ging weiter. Jetzt waren keine Schritte mehr zu hören. Irene drehte sich noch einmal um. Das Kind hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Und es schaute sie immer noch mit diesem sehnsüchtigen, unschuldigen Blick an.
– Na das hat mir noch gefehlt, – dachte Irene.
Sie sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Der nächste Zug geht in einer halben Stunde. Den könnte sie zur Not auch noch nehmen. Sie atmete tief ein und lief wieder zurück zu dem Mädchen.
– Na schön, wie heißt du denn?
Keine Antwort.
– Ich bin Irene, – sie zeigte auf sich selbst. – Verstehst du? Irene. Und du? – Sie richtete den Finger auf die Kleine.
– Donka, – kam endlich eine leise Stimme zum Vorschein.
– Donka? Ist das dein Name?
Das Mädchen nickte.
– Na gut, Donka, schauen wir mal, was wir mit dir machen.

Sie nahm sie bei der Hand und ging zum Infopunkt in der Hoffnung dort etwas über die Eltern des Mädchens herausfinden zu können. Doch auch dort konnte niemand das Kind zuordnen. Eine Ausrufung blieb erfolglos und Irene verpasste nun ihren Zug. Unweit vom Bahnhof befand sich ein Polizeirevier. Irene überlegte, was sie jetzt tun soll. Wenn sie den nächsten Zug nimmt, schafft sie es vermutlich immer noch zu ihrem Vorstellungsgespräch. Sie nahm Donka bei der Hand und verließ den Bahnhof. Auf der Polizeistelle versuchte sie ihre Situation zu erklären.

– Die Kleine hat sich scheinbar verlaufen, – erzählte sie einem Beamten. – Sie war allein am Bahnhof. Die Eltern waren nicht auffindbar. Ich weiß nur, dass sie Donka heißt, aber sie spricht nicht unsere Sprache.
– Danke, dass Sie sie hergebracht haben. – Der Polizeibeamte war nicht sonderlich verwundert. – Wir kümmern uns um die Angelegenheit. Sie können jetzt ruhig gehen. – Was wird denn jetzt mit ihr passieren?
– Wir versuchen erstmal ihre Eltern ausfindig zu machen, aber ich vermute eher, dass sie eine Waise ist. Wir übergeben sie dem Jugendamt und dann wird sie in ein Heim gebracht.
– Und was passiert dann?
Der Polizist schaute sie entgeistert an.
– Na sie wird dort leben.
– Im Waisenhaus?
– Ja. Zumindest so lange, bis eine Pflegefamilie sie aufnimmt oder sie jemand adoptiert. Aber das passiert wohl nicht so schnell. Die meisten wollen lieber Babys oder Kleinkinder adoptieren, verstehen Sie? Es sei denn Sie wollen sie nehmen? – lächelte er.
– Oh nein, das.. das geht nicht. Ich habe eine sehr kleine Wohnung… und auch keine Erfahrung mit Kindern… – stammelte sie hastig. – Das geht einfach nicht… – Das war auch nur ein Scherz.
Irene lief rot an.

Sie schaute Donka an, die auf einer Bank saß und mit einem Plüschbären spielte, den ihr der Polizist vorhin gab. Donka spürte wohl Irenes Blick und schaute zu ihr auf. Sie lächelte. Den Bären schien sie sehr zu mögen. Sie versuchte sich vergebens die Locken aus dem Gesicht zu streifen, die ihr aber immer wieder zurückfielen.

– Keine Sorge. – sagte der Polizist. – Im Waisenhaus wird es ihr gut gehen. Irene nickte.

Sie sah zur großen Uhr an der Wand. Der Zeiger stand auf sieben vor zehn. Wenn sie jetzt sofort los rennt, schafft sie es noch zum Zug. Sie wollte gehen, doch irgendwie konnte sie sich nicht bewegen. Der Sekundenzeiger schien plötzlich schneller zu laufen und Irene verfolgte ihn mit den Augen. Sie sah noch einmal zu Donka, die sie immer noch herzhaft anlächelte, während das Ticken der Uhr im Hintergrund immer lauter zu werden schien…

Von: Inna Ernst

Für den Inhalt und die Gestaltung der Geschichten sind die benannten Autoren verantwortlich. Alle Rechte liegen bei den Autoren.

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Mandy Meyer-Steffan