Unentschieden – Christiane Müller

„Unentschieden.“ – Kaum zu glauben.
Meine Tochter Angela steht regungslos auf dem Tennisplatz und blickt auf ihren Schläger – stumm und bewegungslos.
So habe ich sie noch nie gesehen.
Ihre Gegnerin Lisa jubelt und strahlt, springt wild im Kreis herum und winkt ihren Eltern zu, die aufgestanden sind und laut applaudieren.

Unentschieden

Irgendwie ist die Situation schwer zu begreifen und trifft mich vollkommen unvorbereitet. Angela ist erst zwölf Jahre alt und spielt seit drei Jahren Tennis, aber bis heute hat sie noch kein einziges Match verloren und es noch nie erlebt, dass ein Spiel unentschieden ausgeht.
Jetzt scheint sie zur Salzsäule erstarrt zu sein und das macht mir Angst. Es sieht aus, als hätte sie gerade eine unbegreifliche Niederlage erlitten.
Wahrscheinlich empfindet sie es wirklich so, weil sie es gewohnt ist, immer und in jeder Situation die Beste, Größte und Stärkste zu sein – und zu gewinnen.
Wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, muss ich zugeben, dass ich wohl selber daran schuld bin. Es ist nicht immer leicht, die Karriere und ein Kind unter einen Hut zu bringen – vor allem, wenn der Vater sich aus dem Staub gemacht hat, als die Kleine noch nicht einmal sprechen konnte. Seitdem habe ich vieles falsch gemacht. Das ist mir klar.

Meine Karriere ist alles, was ich habe, und das Wichtigste in meinem Leben. Inzwischen habe ich viel erreicht, und dazu gehört es nun einmal, ständig und manchmal sehr plötzlich auf Reisen zu sein.
Wie gut, dass ich es mir leisten kann, dass Angelas Kindermädchen bei uns im Haus lebt und rund um die Uhr für sie da ist, während ich die Fehler aller erfolgreichen Eltern mache.
In den letzten Jahren hat Angela einen krankhaften Ehrgeiz entwickelt, um mich ständig zu beeindrucken.
Und ich? Ja, ich bringe ihr von meinen Reisen viel zu viele, viel zu teure Geschenke mit, ich verwöhne sie, ich lobe sie auch, wenn sie es gerade überhaupt nicht verdient hat, und ich tanze nach ihrer Pfeife, wenn ich zufällig da bin, – wie heute.
Ja, klar, ein Psychologe würde das alles wahrscheinlich auf unterdrückte Schuldgefühle schieben, aber das hilft mir auch nicht weiter.

Im Augenblick wäre ich viel lieber an jedem anderen Ort – nur nicht hier. Aber jetzt hilft alles nichts. Ich muss mir etwas einfallen lassen, meine Kleine wieder zum Lachen bringen und dafür sorgen, dass sie die Neue im Tennisklub nicht hasst.

Ich stehe auf, gehe zu ihr und umarme sie mit belanglosen, dummen Worten nach dem Motto: „Man kann nicht immer nur gewinnen. Das ist kein Beinbruch und beim nächsten Mal sieht alles wieder ganz anders aus.“
Total blöd! Und natürlich hilft es nichts, weil Angela mit keinem Ton und mit keiner Regung auf meine Umarmung reagiert.

Neben uns umarmt sich Lisas Familie und führt immer noch einen wilden Freudentanz auf. Zum Glück scheinen sie es gar nicht bemerkt zu haben, dass Angela Lisa nach dem Match nicht einmal die Hand gegeben hat.
Dann kommt Lisas dicklicher Vater auch noch strahlend auf uns zu und ruft: „Was für ein Spiel! Das muss gefeiert werden. Wenn die Mädels geduscht haben, laden wir Euch beide in die Eisdiele ein.“
Auch das noch! Aber ich kann nicht so unhöflich sein und ablehnen. Seltsamerweise scheint Angela nichts dagegen zu haben und wehrt sich nicht. Stattdessen geht sie auf die Duschräume zu und wirkt dabei wie ein Roboter.

In der Eisdiele ist sie immer noch still und zieht mit ihrem Löffel Bahnen durch das Eis, statt es zu essen. Die ganze Situation ist mir unendlich peinlich und ich versuche, sie mit belanglosem Smalltalk zu überbrücken.
Auf einmal schaut Angela mich an, strahlt so, wie ich sie kenne, und sagt: „Im Garten hinter der Eisdiele ist doch immer dieses niedliche Kätzchen. Komm, Lisa, das musst du unbedingt sehen!“

Ich kann die wundersame Verwandlung meiner Tochter nicht begreifen, bin aber unsagbar erleichtert. Das Eis scheint endlich gebrochen zu sein und die beiden Mädchen laufen gemeinsam zur Hintertür.
Vielleicht ist meine Angela ja doch ein ganz normales Kind?

Wenig später hören wir einen schrecklichen Schrei. Wir springen auf und rennen uns fast gegenseitig um.
Als wir draußen ankommen, blendet uns zunächst die Sonne, aber dann sehen wir es.
Lisa liegt blutüberströmt am Boden und Angela hält die kleine Garten-Harke der Eisdielenbesitzer in ihrer Hand.

Sie strahlt mich an und sagt: „Jetzt ist es nicht mehr unentschieden.“

Von: Christiane Müller

Für den Inhalt und die Gestaltung der Geschichten sind die benannten Autoren verantwortlich. Alle Rechte liegen bei den Autoren.

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Mandy Meyer-Steffan


Ein Kommentar

Alexander Hillius 26.11.2017, 14:38:59 Uhr

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Eine eindringliche Warnung vor übertriebenem Ehrgeiz, den Jugendliche entwickeln, wenn sie immer nur mit Erfolgen der Eltern konfrontiert werden, ohne auch einmal Niederlagen mitzubekommen.